Josef W. war ein guter Turner.
Sein Abschlusszeugnis aus dem Jahr 1897 ist, von seinen sportlichen Qualitäten und dem Interesse für Naturgeschichte abgesehen, kein Ruhmesblatt. Deshalb wollten ihn seine Eltern auch nicht im Handwerksbetrieb der Familie haben. Er war mehr Tagträumer als Arbeiter oder Geschäftsmann, tüftelte an Ideen und war von der erstaunlichen Erfindung eines Herrn Benz in Mannheim hellauf begeistert.
So beschloss Josef im Sommer 1906, nach Kanada auszuwandern.
Er heiratete und gründete eine Familie in Ontario. 1907 begann er, für den ersten Autohersteller Kanadas, Gordon McGregor & Wallace Campbell, zu arbeiten. Während in der Zwischenkriegszeit in der Heimat viele Unternehmen, auch jenes seiner Eltern, in den Ruin gingen, blühte die Autoindustrie in Kanada und den USA auf. Als Josef 1953 mit 70 Jahren in den Ruhestand ging, war er ein wohlhabender Mann.
Als sich sein Urenkel Timothy im Jahr 2000 als 15-jähriger etwas Taschengeld verdienen wollte, erlaubten ihm seine Eltern, den Dachboden aufzuräumen. So fand Timothy Josefs Zeugnis und alle staunten.
Denn Josef hatte ein ganzes Leben lang sein Image als kluger Mann und hervorragender Schüler kultiviert, um seine vier Söhne und seine Enkelkinder zu besseren Leistungen zu motivieren. Das Zeugnis wurde eingerahmt und im Wohnzimmer an die Wand gehängt.
Das Andenken an den ausgewanderten Urgroßvater, der ein liebenswürdiger, fröhlicher und fleißiger Mann voller Ideen war, konnte das schlechte Zeugnis nicht schmälern. Im Gegenteil, die Familie war sich einig, dass sich in Zukunft niemand mehr für seine Noten schämen sollte und dass man es Josef von Herzen gegönnt hätte, sein Zeugnis nicht verstecken zu müssen.
Timothy hatte auch ein Notizbuch gefunden, eine Art sporadisch geführtes Tagebuch. So wurde ihm bewusst, wie sehr Josef an Heimweh gelitten hatte. Er hatte es aber nie gezeigt. Wäre er ein besserer Schüler gewesen, er hätte die Heimat wohl nie verlassen.
Josefs Erben:
Im Jahr 2022 leben bereits über drei Dutzend direkter Nachkommen in aller Welt verstreut. Etliche von ihnen sind Global Natives, sie alle fühlen sich als Weltbürger und ihren europäischen Wurzeln verbunden.
Timothy, heute 37 Jahre alt und Vater von drei Töchtern, ist Legastheniker und hatte deshalb schulisch selbst oft Probleme. Als er von der Zielsetzung der Bad Students Society erfuhr, schickte er umgehend ein Bild von Josefs Zeugnis nach London.
Er schrieb dazu:
"Ich bin begeistert von dem Gedanken der Solidarität mit schlechten Schülern!
Noten haben schon ihre Berechtigung, man braucht Ziele und Benchmarks für Leistungen, aber sie dürfen niemals den Menschen entwerten.
Wir haben genug junge Leute in der Großfamilie, die als Teenager auch ihre Krisen durchgemacht haben. Ich will mir gar nicht vorstellen, wo sie heute wären, wenn die Familie sie, wie damals Josef, derart abgeschrieben hätte!"
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